Teil 4

Route der Fähre.

Meine Reise begann in Saint-Nazaire. Dort war der Hafen, zu dem die Fähre aus Sunset Valley fuhr. Diese Fähre hatte mich also direkt nach Frankreich gebracht.

Was würde mich in den nächsten vier Monaten wohl alles erwarten? Was würde ich sehen? Sicher viel - in vier Monaten konnte man auch zu Fuß eine enorme Strecke zurücklegen. Die größten Sorgen machte ich mir allerdings wegen der Nahrung. Besser gesagt darum, ob ich immer genug Geld in der Tasche für Lebensmittel und Getränke hatte. Was, wenn meine Gitarrenfähigkeiten den Leuten keinen Simoleon aus der Tasche locken würden? Musste ich mich dann von Beeren und Wurzeln ernähren?

Ach was, ich sollte nicht gleich zu Beginn den Teufel an die Wand malen! Das hier war mein Abenteuer. Etwas, was ich mir vor ein paar Monaten nie zugetraut hätte. Ich wäre nicht mal auf so eine Idee gekommen! Und jetzt war da neben der Aufregung auch ein Gefühl der Vorfreude, was ich wohl alles erleben würde.

Am Nachmittag fand ich ein hübsches Plätzchen. Eine schöne, flache Wiese für mein Zelt, ein kleiner Bach und über allem hing leichter Nebel. Ja, da könnte ich wohl heute übernachten.

Nachdem ich das Zelt aufgestellt und befestigt hatte, ließ ich mich auf die Wiese plumpsen. Ich war ganz schön geschafft, zollte das aber der noch etwas ungewohnten Anstrengung.

 

Ich machte es mir ein bisschen gemütlicher, holte meine Wasserflasche und die Packung Kekse, die ich mir mitgenommen hatte, aus dem Rucksack und hörte dem Plätschern des Wassers zu. Es war wirklich schön hier. Der perfekte Moment, um Felix' Brief zu lesen. Aufgeregt entfaltete ich das Papier und las:

Ich schluchzte auf, als ich geendet hatte, wischte mir die aufkommenden Tränen aus den Augen und las den Brief gleich noch mal. Er schrieb, dass er nicht romantisch war, dabei hatte ich nie einen romantischeren Brief als diesen bekommen. Weil ich spürte, dass er wirklich jedes Wort so meinte, das er geschrieben hatte.

 

Ich drückte das Papier an meine Brust und ließ mich nach hinten fallen. Dass ich von einem Mann wie Felix so geliebt wurde, war einfach nur unglaublich. Und wunderschön. Als ich mich wieder einigermaßen beruhigt hatte, schrieb ich ihm per Whatsapp, dass ich seinen Brief gelesen hatte, dass ich ihn auch über alles liebte und schon jetzt vermisste, und dass er mich mit seinen Worten zu Tränen gerührt hatte. Daraufhin schrieb er zurück, dass genau das der Grund gewesen war, warum ich den Brief alleine lesen sollte. Und das es ihn freute, dass er mich berühren konnte, er hatte schon Angst gehabt, überhaupt nicht mehr die richtigen Worte für mich zu finden. Und er schrieb, dass er das Foto von uns schon ein paar mal angeschaut hatte. Sein richtiger Dienst ging erst in zwei Tagen los, er hatte also noch ein bisschen Zeit, sich das Schiff anzuschauen und sich seine Kabine gemütlich einzurichten.

Ein paar Tage später stand ich vor dem Dorf Saint-Michel-Chef-Chef, welches auch an der Küste lag.

Es war noch gar nicht so spät, also hatte ich noch genügend Zeit, mir einen Schlafplatz zu suchen. Ich schlenderte also gemütlich durch das Dorf und stand plötzlich vor einer Tür ohne Haus. Ich traute meinen Augen kaum und ging noch näher an das seltsame Bauwerk heran. Es sah aus, als hätte es hier gebrannt. Als wäre das Haus abgebrannt, und nur die Türe und das Fundament hätten das Feuer überstanden.

"Mademoiselle!", rief mich da ein Mann, der aus dem Haus neben der Ruine trat. Ich horchte auf und wappnete mich zunächst für alles. Man konnte ja schließlich nie wissen!

Der Mann machte einen verwahrlosten Eindruck, und er roch auch nicht frisch. Lebte der hier oder hatte er nur einen Unterschlupft gesucht? Der Mann stellte sich mir als Juan Darer vor.

"Entschuldigen sie bitte, dass ich sie so einfach anspreche", sagte er auf Französisch mit spanischem Akzent. Ich konnte ihn nur schlecht verstehen. Seine Stimme war etwas brüchig, und ich ahnte, dass dieser Mann keine Gefahr für mich darstellte, sollte er niedere Beweggründe haben, mich jetzt anzusprechen. Ich schaffte es, Felix auf die Matte zu werfen, da war der Kerl hier ein Klacks! In diese Gedanken hinein sprach er weiter:

"Es ist nur so: In diese Gegend verirrt sich kaum jemand, aber ich bräuchte ein paar gesunde Augen und Hände, um ein kleines Spielzeug für einen Jungen fertig zu stellen, der in ein paar Tagen Geburtstag hat. Er ist der einzige, der mal mit dem Fahrrad hier bei mir vorbei schaut, da möchte ich ihm gerne eine Freude machen". Ein Spielzeug? Oh je, ich fürchtete, dass ich da nicht wirklich helfen konnte.

"Ich weiß nicht, ob ich so etwas kann", gab ich deshalb zu. Viola wäre da sehr viel geschickter, sie hatte schon als Kind an der Werkbank rumgetüftelt.

"Es ist nicht schwer, keine Sorge. Würden sie sich das mal ansehen?".

Nun gut, warum nicht. Wenn ich es nicht konnte, hätte ich es wenigstens versucht.

 

Juan führte mich in das Haus, das so wie er schon in die Jahre gekommen war. Es war voller Werkbänke und Arbeitsmaterialien. Wie er diesen riesigen Tonklotz in sein Haus gebracht hatte, war mir ein Rätsel.

Kurz erklärte er mir, worum es ging.

 

Er hatte für diesen Jungen eine Figur aus Schrott gebaut. Nun mussten nur die letzten Schrauben festgezurrt werden, hier und da noch ein Teil befestigt werden, doch er schaffte das nicht mehr. Er konnte nicht mehr so gut sehen und seine rheumageplagten Finger machten auch nicht mehr das, was sie sollten.

"Ich werde es versuchen, Monsieur", versprach ich ihm.

Zuerst besah ich mir die Figur und konnte zuerst gar nichts erkennen.

"Es soll ein Surfer sein", sagte Juan. "Pierre möchte immer gerne surfen lernen, aber seine Eltern erlauben es ihm nicht, zumindest noch nicht. Sie sagen, er muss erst noch älter werden. Der Junge wird acht. Also habe ich gedacht, ich bastle ihm einen Surfer, den er sich anschauen kann, bis er sich dann selbst auf ein Surfbrett stellen kann". Ich fand die Idee einfach ganz toll, nahm dann den Schraubenzieher zur Hand und zog die Schrauben an, die mir Juan zeigte.

Ich war nicht gerade mit technischem Talent gesegnet, doch irgendwie bekam ich die Figur trotzdem fertig.

Juan hatte mir in der Zeit zum Dank ein paar Waffeln ausgebacken. Die waren zwar etwas dunkel geraten - sicher hatte er das nicht mehr so gut sehen können -, doch ich wollte nicht unhöflich sein und aß eine auf.

"Ich danke ihnen sehr, Mademoiselle!", sagte er herzlich, als ich dann wieder aufbrechen musste. Ich fragte ihn nach einem Platz, auf dem ich zelten konnte, und er beschrieb mir einen Weg zu einer Stelle, die sehr schön wäre. Außerdem gab er mir den Tipp, mich doch auf dem Schrottplatz umzusehen, der auf dem Weg dorthin lag, vielleicht könne ich davon ja auch was gebrauchen. Von dort hole er sich auch immer die Teile, die er für seine Arbeiten benötigte. Ich bedankte mich für die Tipps und machte mich dann auf die Socken.

Als ich an dem Schrottplatz vorbei kam, überlegte ich zuerst, ob ich wirklich da rein und in dem Schrottabfall wühlen sollte. Doch dann überwand ich mich und suchte nach Brauchbarem. Und wurde tatsächlich fündig.

Ein alter Kessel diente mir an diesem Abend als Feuerstelle, und ich konnte mir etwas Gemüse grillen. Das Feuer strahlte außerdem ein heimeliges Licht aus, und ich fühlte mich ganz wohl, allerdings auch ein bisschen einsam.

Einige Tage später kam ich mal wieder in einer größeren Stadt an. Das Wetter war warm, und viele Menschen waren unterwegs.

Das war mehr als gut für mich, denn meine Reisekasse war sehr karg geworden. Also stellte ich mich sofort in einen Park und begann zu spielen.

Schon nach kurzer Zeit hatte ich den ersten Zuhörer. Das war jedesmal wieder ein zwar noch etwas ungewohntes, aber doch sehr schönes Gefühl. Dieser Mann hier war nur wegen meiner Musik stehengeblieben!

Ich war gerade richtig gut in Fahrt, als ich nur ein paar Meter von mir entfernt eine andere Gitarre hörte. Ungläubig starrte ich auf den Witzbold, der sich hingestellt hatte, um mir Konkurrenz zu machen.

Ärgerlicherweise hatte der auch viel mehr Zuhörer als ich! Dabei stand ich schon einige Zeit länger hier.

Ohne lange nachzudenken ging ich auf den Kerl zu. Der Park war groß genug, da konnte er sich ja wohl auch woanders hinstellen. Und genau das würde ich ihm jetzt auch sagen.

"Monsieur", sagte ich, "vielleicht haben sie es ja nicht bemerkt, aber ich stand dort hinten, um Musik zu machen. Könnten sie vielleicht in die andere Ecke des Parks gehen? Sonst stören wir uns doch nur gegenseitig!". Der Mann sah mich verwundert an und musterte mich von oben bis unten.

"Du bist neu hier", stellte er fest. Was hatte das jetzt mit meinem Anliegen zu tun? Und da mich der Kerl sofort geduzt hatte, duzte ich ihn jetzt natürlich zurück.

"Ich bin auf der Durchreise. Und ich muss Geld verdienen, deshalb wäre es toll, wenn du dich an einen anderen Platz stellen könntest".

"Also, eigentlich kann ich mich hinstellen, wo ich will", sagte dieser Kerl, und als ich schon protestieren wollte, fügte er hinzu: "Aber du hast Recht. Wir sollten uns nicht gegenseitig stören. Wie wäre es, wenn wir zusammen spielen würden?". Er wollte mit mir gemeinsam Musik machen? Eine verlockende Vorstellung, zumal bei ihm wirklich viel mehr Leute gestanden waren als bei mir.

"In Ordnung. Lass uns was zusammen spielen", sagte ich und lächelte ihn an.

Und dann spielten wir zusammen. Die Stücke waren immer schnell gefunden, und das Geld klimperte schon bald in unseren Gig-Bags.

 

Nachdem wir eine Weile gespielt hatten, stellte sich mein Mitmusiker als DeAndre Wolfe vor. Er reiste ebenfalls durch das Land, er war allerdings gebürtiger Franzose und lebte in einer Stadt im Osten Frankreichs. Mehr verriet er mir nicht, und außer meinem Namen und dem Land, in dem ich wohnte, wollte er auch von mir nichts wissen. Aber das war vielleicht auch gut so. Weil er die nächsten Kilometer eine ähnliche Route wie ich hatte, liefen wir dann noch die nächsten zwei Tage gemeinsam weiter. Wir machten Musik, schlugen unsere Zelte nebeneinander auf und leisteten uns Gesellschaft. Nach ein paar Stunden war mir schon klar geworden, dass ich es mit einem richtigen Lebenskünstler zu tun hatte, der sehr gut wusste, wie er überleben konnte. Und so gab er auch an mich den einen oder anderen Tipp weiter.

 

Als sich unsere Wege wieder trennten, war ich wirklich traurig. Mit DeAndre zu gehen hatte nicht nur Spaß gemacht, sondern auch die Einsamkeit vertrieben. Und auch wenn die Chancen sehr gering waren, so hoffte ich doch insgeheim, dass wir uns noch mal in diesem Leben über den Weg laufen würden.

Es war drei Wochen später, als ich richtig hungerte. Schon seit Stunden hatte ich keine feste Nahrung mehr zu mir genommen. Mein letztes Geld hatte ich vor zwei Tagen für ein bisschen Brot und Käse ausgegeben, doch das war inzwischen verschlungen.

 

Da kam ich an einem gepflegten Garten vorbei, in dem die verschiedenstens Sorten Obst und Gemüse wuchsen.

 

Mir lief das Wasser im Munde zusammen.

Ich schlich mich hinein und besah mir die roten Äpfel, die mir verlockend zuflüsterten, dass ich sie greifen und essen könne. So musste sich Eva im Paradies gefühlt haben.

Doch ich war nicht so dumm wie Eva. Ich würde nichts Verbotenes tun, basta. Entschlossen drehte ich mich um, kniff aber meine Augen zusammen, damit ich diese Köstlichkeiten nicht mehr sehen musste und ging weiter.

Mir knurrte der Magen. Und zwar so laut, dass das auch andere Menschen gehört hätten, wäre jemand da gewesen. Mein Gott, ich musste dringend zu Geld kommen! Oder mir was anderes einfallen lassen. Aber ich musste essen! Bald!

Plötzlich wurde ich angesprochen:

"Entschuldigen sie. Sie können gerne davon pflücken, wenn sie möchten". Ach du meine Güte, ich hatte das Mädchen gar nicht gesehen! Sah ich denn schon so hungrig aus? Oder hatte es tatsächlich mein Magenknurren gehört?

"Vielen Dank! Ich möchte hier aber niemandem etwas wegessen". Das Mädchen lachte auf.

"Das ist schon in Ordnung. Dieser Garten wird gemeinschaftlich genutzt und soll eben auch für Touristen eine Möglichkeit bieten, das Obst und Gemüse Aquitaniens probieren zu können".

"Das ist ja wirklich sehr gastfreundlich!", freute ich mich. Wie nett! Als dann mein Magen plötzlich noch mal laut knurrte, meinte sie diskret:

"Nehmen sie sich ruhig was. Ich bin übrigens Molly Coddle".

"Madeleine von Hohenstein", stellte ich mich vor. "Und vielen Dank!".

"Sehr gerne", sagte Molly noch, bevor sie dann ging.

Und dann hielt mich nichts mehr. Zuerst pflückte ich mir eine Handvoll Äpfel...

... dann nahm ich mir noch ein paar Tomaten mit. Eine davon naschte ich sofort, danach gönnte ich mir dann einen der Äpfel und beides war ausgesprochen lecker. Man schmeckte regelrecht, wie sonnenverwöhnt das Obst und Gemüse hier war. Und damit war dann auch mein größter Hunger gestillt, so dass ich weiterziehen konnte. Ich hätte mich hier gerne irgendwie erkenntlich gezeigt, doch da ich absolut nicht wusste, wie, musste ich das leider lassen.

Als ich diese Stadt wieder verlassen hatte, kam ich in eine ziemlich menschenleere Gegend. Die Natur hier war atemberaubend schön. Ich betrachtete die Bäume, die Blumen, Gräser und Sträucher, als sähe ich das alles zum ersten Mal. Es war sumpfig, und oft schwebte noch Nebel über dem Boden, was dem Ganzen eine schaurige Atmosphäre gab. Und auch wenn ich teilweise total von der Außenwelt abgeschnitten war - nämlich dann, wenn ich auch am Handy absolut keinen Empfang mehr hatte - so hatte ich doch keine Angst, sondern genoss die Stille oder die Tierstimmen, deren Chor im Großstadtrubel allzu oft einfach verstummte.

Als mir dann sogar ein Waschbär auf einer alten Holzbrücke entgegen kam, der von mir völlig unbeeindruckt seinen Weg einfach fortsetzte, während ich vor Überraschung stehen bleiben musste, um das Tier ungläubig anzustarren, wusste ich, dass ich wirklich weg vom Stadtleben war.

 

Und ich genoss das! Zum ersten Mal seit vielen Jahren machte ich mir keine Gedanken um die Schule, Klausuren, den Lernstoff, den ich in meinen Kopf pauken musste und dergleichen. Ich machte mir keine Gedanken um die Firma und wie ich sie unterstützen könnte. Ich machte mir keine Gedanken darüber, wie ich auf meine Außenwelt wirkte. Hier gab es nur die Natur - und mich. Hier musste ich mir genügen, kein anderer Gedanke lenkte mich von mir selbst ab.

Und das war gar nicht so einfach. Lag es nur an der Umstellung oder war ich mir manchmal selbst zu langweilig? Würde jeder, der davor in einem Leben voller Termine gesteckt hatte, so wie ich reagieren oder steckte da einfach nicht so viel in mir, um mich über einen längeren Zeitraum auszufüllen?

 

Ich wusste es nicht. Aber wenn diese Gedanken zu sehr in mir bohrten, war ich froh, wieder in den nächsten Ort zu kommen, wo ich dann doch wieder Ablenkung erfuhr.

Ich war seit über zwei Monaten unterwegs und hatte das Gefühl, dass meine Füße nur noch aus Blasen bestanden. Ich hatte nicht gedacht, dass mir das Gehen so viel ausmachen würde, ich hielt mich für dieses Abenteuer dank der zusätzlichen Joggingrunden und Sporteinheiten ausreichend vorbereitet. Falsch gedacht! Ich war fix und fertig und wollte nur noch schlafen. Da es ein wunderschöner Oktobertag war mit sommerlichen Temperaturen, legte ich mich dann tatsächlich einfach auf die nächstbeste Wiese, an der ich vorbeikam. Mein Handtuch diente als Decke, und ich ließ mir die Sonne auf meine verschwitzte Haut scheinen.

 

Ah, das tat gut!

Nachdem ich ein paar Minuten so gelegen war, mir mal ausnahmsweise keine Gedanken um die nächste Mahlzeit oder den Schlafplatz machte, kamen die Gedanken an Felix und meine Familie zurück.

 

Wie sehr ich sie alle vermisste! Allein schon meine Eltern und Geschwister. Ich stellte mir Viola vor, wie sie an der Bar in der Schinderei stand und Drinks mixte. Ich sah meine Mama am Schreibstisch sitzen und an ihrem nächsten Roman arbeiten. Mein Daddy zeigte sich mir als ruhiger Geschäftsmann, der die Geschicke der Firma mit Herzblut leitete. Sven stand in meinen Gedanken natürlich im Garten und kümmerte sich um seine geliebten Pflanzen. Obwohl, ihn musste ich mir ja in seinem neuen Gewächshaus in seinem Haus vorstellen, in das er kurz vor meiner Abreise mit Lara gezogen war. Die beiden waren zusammen. Genauso wie Viola und Volker und Mama und Papa...

 

Ich schluckte hart. Felix schipperte in diesem Moment irgendwo auf dem Indischen Ozean herum, weit weg von mir. Seine Nachrichten zeigten mir, dass er sich auf dem Schiff wohl fühlte, mich allerdings auch vermisste. Wie gern würde ich ihn nun im Arm halten! Wie gern würde ich ihn küssen! Ich liebte diesen Mann und vermisste ihn höllisch. Den Brief, den er mir gegeben hatte, war inzwischen schon etwas zerknittert, so oft hatte ich ihn schon gelesen.

 

Was hatte ich mir nur dabei gedacht? Hatte ich ihn nicht schon fast dazu gedrängt, sich bei der Reederei zu bewerben? Hatte er mir nicht gesagt, dass er gar nicht mehr weg wollte? Warum also musste ich das alles in die Wege leiten? Und was wollte ich mir eigentlich mit einer Rucksacktour durch den Süden Europas beweisen? Verzweiflung kroch in mir hoch, und ich konnte es nicht verhindern, dass mir die Tränen in die Augen schossen. Aber warum sollte ich das auch verhindern, es sah mich ja eh niemand. Denn ich war allein. Höchstens ein paar Ameisen waren nun Zeuge davon, wie ich in meinem Selbstmitleid versank.

 

Am liebsten würde ich kehrt machen und nach Hause zurückkehren.

Ich war an einem absoluten Tiefpunkt angekommen. Immer wieder schoss mir die Frage in den Kopf, wozu ich das alles noch durchzog. Wenn ich jetzt nach Hause zurückkehrte, dann könnte ich zumindest meine Familie und Freunde wieder sehen, auch wenn Felix natürlich nach wie vor unerreichbar war.

 

Ich bemerkte kaum, dass ich an diesem Abend in einer neuen Stadt gelandet war. Dabei dämmerte es schon und ich hatte noch nicht mal einen Platz für das Zelt gefunden. Großartig!

Für die Schönheiten dieser Stadt hatte ich kaum ein Auge übrig. Ich wollte mein altes Leben zurück, ohne die verdammten Blasen an den Füßen, die mich hier mehr schlecht als recht meinen Weg fortsetzen ließen. Ich brauchte meine Familie, meine Freunde! Und ich brauchte Felix so sehr. Wir hatten nun schon seit vier Tagen nichts mehr voneinander gehört, denn in der Gegend, in der ich gelaufen war, hatte ich absolut keinen Empfang gehabt.

Plötzlich piepte mein Handy.

>Na, endlich mal wieder in der Zivilisation?<, fragte mich Felix per Whatsapp. Oh Gott, ich hatte wieder Empfang!

 

Nun trudelten auch die Nachrichten ein, die in den letzten Tagen an mich geschickt worden waren und die ich nicht hatte empfangen können. Es waren 16 Stück, davon waren allein sieben von Felix. Die letzte, die er vor dieser heutigen Nachricht geschrieben hatte, lautete:

>Immer noch nur einen Haken, wenn ich dir eine Nachricht schicke. Anscheinend bist du gerade irgendwo in der Pampa unterwegs. Dann warte ich, bis ich sehe, dass dich die Nachrichten wieder erreichen können<.

>Felix!<, tippte ich aufgeregt ein, >Oh, es tut so gut, von dir zu lesen! Wie geht es dir? Mir geht es überhaupt nicht gut! Ich vermisse dich, ich vermisse alle, ich möchte wieder zurück, ich kann einfach nicht mehr<. An der Stelle brach ich ab und las meine letzten Worte noch mal durch.

 

Ging es eigentlich noch verzweifelter? Das war ja nicht zum aushalten! Wenn ich diese Nachricht an Felix schickte, machte er sich womöglich noch Sorgen um mich! Das ging ja gar nicht! Deshalb löschte ich alles ab "Mir geht es überhaupt nicht gut" und schickte dann folgende Nachricht ab:

>Felix! Oh, es tut so gut, von dir zu lesen! Wie geht es dir? Wo bist du gerade? Ich bin in einer netten Kleinstadt namens Eysine gelandet, die in der Region Aquitane liegt und suche mir jetzt dann einen schönen Platz zum Zelten. Ich liebe dich!<. Gleich darauf kam eine Nachricht von ihm:

>Ich freue mich auch, endlich mal wieder was von dir zu hören! Wir legen morgen früh an Mauritius an. Es ist paradiesisch hier, du solltest hier sein. Ich liebe dich auch, Creamy!<. Mauritius! Ich seufzte auf. Irgendwann würde ich dort Urlaub mit Felix machen, so viel stand fest. Seine Nachricht war im richtigen Moment gekommen, es ging mir schon wieder etwas besser. Vielleicht hatte mir der soziale Kontakt gefehlt, denn in den letzten Tagen hatte ich kaum eine Menschenseele getroffen.

 

Aufgeben war keine Option. Wie sollte ich mir denn in Zukunft weiter in die Augen schauen können, ohne mich selbst als Versagerin zu sehen, wenn ich jetzt abbrach? Also weiter, ich brauchte einen Schlafplatz heute Nacht. Und einen solchen fand man nicht, wenn man trübselig war, dumm in der Gegend herumstand und nur heulte. Fertig.

 

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